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Zum Unterschied von “Gewalt” und “Aggression”

Im alltäglichen Sprachgebrauch werden häufig die Begriffe “Aggression” und “Gewalt” synonym, also gleichbedeutend, gesetzt und damit geht eine unheilvolle Vermischung im Grunde ganz verschiedener Impulse im menschlichen Zusammenleben einher.

Das aus dem Lateinischen stammende Verb "aggredere" als Ursprungsbegriff für das heutige Substantiv “Aggression” bzw. das Adjektiv “aggressiv” hatte ursprünglich die Bedeutung von “angreifen”, “berühren”, etwas “be-greifen”, auch “anteil-nehmen”, “Interesse zeigen”. Es handelt sich dabei im Kern um einen sehr subtilen sozialen Vorgang, der in zwischenmenschlichen Interaktionen unverzichtbar ist. Ohne das Eingehen aufeinander, das Fragen, das Mitfühlen oder das Entgegnen und Widersprechen wären soziale Interaktionen und Begegnungen zwischen Menschen bloß oberflächlich, leblos und mechanisch.

Gewalt hingegen hat einen ganz anderen Charakter. Gewalt stellt sich nicht auf ein Gegenüber ein, sie fällt gleichsam über den anderen her, zwingt ihm etwas auf und zerstört ihn im schlimmsten Fall. Es spielt keine Rolle, wie es dem anderen geht, was er möchte oder was er sich erhofft, es geht einzig und allein um den Willen des Gewalt-ausübenden. Gewalt spielt sich nie in Form einer Begegnung ab, sie stellt sich immer über den anderen, macht ihn zum Objekt. Im sozialen und politischen Zusammenhang ist sie oft gepaart mit Macht, man spricht ja nicht von Ungefähr z.B. von der “Staatsgewalt”.

Gewalt kann sich manifestieren im Überstülpen von Normen und Regeln, von Werten und Verhaltensweisen, die ursprünglich nicht im Anderen angelegt sind und daher als fremd und aufgezwungen empfunden werden. Im Lauf der Persönlichkeitsentwicklung werden solche von Gewalt geleitete Interventionen im Rahmen der sogenannten “Erziehung” als Introjekte in das Selbstkonzept eingebaut und dienen nach und nach in Form  “sozialer Normen” und “normalen” oder besser: “angepassten” Verhaltensweisen zur Orientierung im sozialen Zusammenleben und gewährleisten Stabilität in den sozialen Gemeinschaften. Das sind im Grunde nützliche und wichtige Voraussetzungen, die wesentlich zum Bestand sozialer Gemeinschaften beitragen. Wenn aber diese Introjekte überhand nehmen, das Selbstkonzept zu sehr dominieren, desto rigider wird die Persönlichkeitsstruktur und desto stärker wird sie sich gegen jede Form von Veränderung, egal ob sie nun von außen oder von innen angestoßen wird, wehren. In den politischen Systemen bedeutet das Überregulierung, Kontrolle und Zensur möglichst aller Lebensbereiche, der letztlich zu totalitären Herrschaftsverhältnissen führt. Intrapsychisch führt eine solche Entwicklung des Selbstkonzeptes zu psychischen Problemen und Dysfunktionalität im sozialen Kontext.

Das rationale Denken ist dabei der eifrigste Helfer bei der Aufrechterhaltung eines rigiden Selbstkonzepts und behält mit seinem schier unendlichen Einfallsreichtum meist die Oberhand über Intuition und Gefühl. Dabei werden oft Gefühle und Empfindungen so geschickt zurechtgebogen, bis sie in das rigide Selbstkonzept passen. So können auch die quälendsten Empfindungen bzw. die abstrusesten Vorstellungen im Selbstkonzept ihren Platz finden. Das ist weiters auch der Grund, warum Persönlichkeitsveränderungen, speziell durch Psychotherapie, so lange dauern und in so unendlich kleinen Schritten vonstattengehen.

Als organismischer Antagonist einer verhärteten und rigiden Selbststruktur kommt aber nun die Aggression ins Spiel. Aggression ist in erster Linie einmal ein “Werkzeug” des Unbewussten. Es dient der “Befragung” einer Situation in der Erwartung einer Reaktion, einer Resonanz im Sinne einer neuen Qualität in der Begegnung bzw. im sozialen Kontakt. Aggression steht auch in enger Verbindung mit den Gefühlen und den noch nicht bewussten Impulsen aus Bereichen jenseits der Bewusstseinsschwelle. Deshalb kommt Aggression oft so ungelenk, fragmentarisch, ungeschliffen im Ausdruck, aber in jedem Fall kraftvoll und lebendig daher und ist manchmal mit einem Gefühl von Unsicherheit und Scham verbunden. Wir machen uns in gewisser Weise “nackt” vor den Anderen und zeigen uns in einer Unmittelbarkeit, die “riskant” erscheint. Jedes in-Beziehung-gehen, jede Form der Begegnung kann ohne Aggression nicht lebendig werden, es bedarf immer des fragenden aufeinander-eingehens und oft auch des Widerstands oder der Entgegnung. In der Aggression nähern wir einander an, loten die eigenen Gefühle und Resonanzen und die des Gegenübers aus und setzen uns selbst damit neu in Beziehung. Dazu ist es aber notwendig, dass wir uns selbst und den Anderen aus einer interessierten Haltung heraus in Frage stellen und dabei zulassen, was sich dabei zeigt.

Kinder gehen mit ihren Aggressionsimpulsen meist sehr spontan und zunächst unverständlich um, oft auch verbunden mit körperlichen Aktionen wie Stoßen, Beißen oder intensiven Berührungen. Häufig werden solche Aggressionsimpulse missverstanden und als vermeintliche Gewalt getadelt oder sogar mit Strafmaßnahmen sanktioniert. Auch Schimpfen oder “freches” Verhalten, Aufsässigkeit und viele andere Verhaltensweisen, die von Erwachsenen als inakzeptabel qualifiziert werden, gehören dazu. Dabei haben all diese Verhaltensweisen nur eine gemeinsame Botschaft in der folgenden Art: “nimm mich wahr!”, “schau, da bin ich!”, “zeig dich!”, “setzte dich mit mir auseinander!”. Werden solche Aggressionsimpulse nicht befriedigend und im Sinne einer echten Zuwendung beantwortet, ignoriert oder gar sanktioniert, führt das zur Unterdrückung der mit den Aggressionsimpulsen verbundenen Bedürfnissen mit dem Ergebnis des “Brav-seins”, der allgemein-gesellschaftlich angestrebten Verhaltensweise von Kindern.

Die Unterdrückung von Aggressionsimpulsen ist meiner Meinung nach die häufigste Ursache bzw. Begleiterscheinung vieler psychischer Störungen. Bei depressiven Menschen ist oft das Fehlen von Gefühlen bzw. der erschwerte Zugang zu Emotionen und Affekten zu beobachten, was auf die nahezu vollständige Unterdrückung von Aggressionsimpulsen in Verbindung mit einem sehr rigiden Selbstkonzept zurückzuführen ist.

Besonders fatal ist der Umgang mit Aggressionsimpulsen durch Lehrpersonen im Bereich der Schule. Hier wird ganz massiv an der Sanktionierung und weiteren Unterdrückung von Aggressionsimpulsen “gearbeitet” und damit der Grundstein gelegt für die Entstehung und Ausübung von Gewalt im schulischen und außerschulischen Alltag und in den sozialen Beziehungen allgemein. Es klingt paradox, aber im Großen und Ganzen fördert die Schule mit den gängigen pädagogischen Konzepten und Vorstellungen und den persönlichen Einstellungen der Lehrkräfte Gewalt. Was für die Schule ganz allgemein gilt, gilt natürlich auch für den beruflichen und familiären Alltag. Auch hier werden Aggressionsimpulse unterdrückt, notwendige Auseinandersetzungen gemieden und lieber in einer quälenden Beziehung weitergelebt als in Auseinandersetzungen zu gehen.

Um es noch einmal zu betonen: Aggression ist fundamental notwendig für den Eintritt in echte Begegnungen, in die zugewandte Wahrnehmung des anderen und für ein lebendiges Miteinander. Und: Aggression ist nicht Gewalt. Werden Aggressionsimpulse fortgesetzt unterdrückt, wandeln sich diese hingegen zunehmend in Gewalt um und nehmen die Gestalt jener Introjekte an, die ursprünglich für die Unterdrückung zuständig waren. Genau aus diesem Grund werden häufig Opfer von Unterdrückung und Gewalt ebenfalls Täter:innen und üben dann ihrerseits Gewalt und Unterdrückung aus.

Zu der Frage, warum es in unserer zivilisierten Welt so viel Gewalt und Zerstörung gibt, möchte ich die These aufstellen, dass dies darin begründet liegt, dass das Wesen der Aggression bis heute nicht genügend verstanden und insbesondere die Wichtigkeit und fundamentale Bedeutung der Aggressionsimpulse für das Zusammenleben kaum erkannt und gewürdigt wird. Deswegen führt meiner Meinung nach der Weg zu einem lebendigen Miteinander, Freiheit und Frieden nur über die Auseinandersetzung mit der Aufgabe, Agressionsimpulse zu verstehen, zu akzeptieren und in die tägliche Praxis des sozialen Zusammenlebens zu integrieren.

Die Folge von Gewalt ist unweigerlich die Zerstörung. Im Bereich der belebten Umwelt führt das zur Zerstörung der Ökosysteme und im Bereich der menschlichen Kulturen zur Zerstörung von sozialen Strukturen, deren Zusammenhalt und der Beziehungen einzelner Individuen zueinander. Unsere moderne Zivilisation ist säumig darin, der Aggression den nötigen Platz und Ausdrucksmöglichkeit zu geben und anzuerkennen, dass es sich hier um eine überlebenswichtige Frage handelt. Die letzten Jahrhunderte haben uns gelehrt, dass die Instrumente von Macht und Gewalt apokalyptische Ausmaße angenommen haben und die Zerstörung des Planeten und damit unserer Lebensgrundlagen bereits bedrohliche Ausmaße angenommen hat. Natürlich gibt es auch Gegenbewegungen und demokratische und zivilgesellschaftliche Gegenströmungen, ermutigende Entwicklungen in der modernen Kunst und Kultur und - was nicht zu unterschätzen ist - die Etablierung der Psychotherapie. Genau aus diesem Grund ist die Psychotherapie auch so eminent politisch. Sie legt den Finger auf die Wunden, welche die unterdrückten Aggressionsimpulse hinterlassen haben und tragen so zur Befreiung und Entfaltung von Menschen bei.

Viele sogenannte “primitive” Kulturen haben Rituale und Kulturtechniken entwickelt, die den Umgang mit aggressiven Impulsen zum Ursprung haben. Ob es nun Tänze sind, ausgedehnte Feste und bestimmte Spiele, Musik, Gesänge, Zusammenkünfte, der Konsum psychoaktiver Substanzen, “primitive” Kulturen haben eine Unmenge an latent vorhandenen aggressiven Impulsen in ihr kulturelles Repertoir aufgenommen und so diesen fundamentalen Impulsen eine Form und einen Ausdruck verliehen. Dieser ermöglicht es diesen Gesellschaften leichter, diese in ihr Leben konstruktiv zu integrieren und es dadurch obendrein noch zu bereichern.

Ansätze dazu gibt es in unserer modernen Welt zwar auch, aber eher in dem Einzelnen entfremdeter Weise. Zwar entspringt beispielsweise die Entwicklung moderner Musikstile wie Blues, Jazz, Rock´n Roll, Rock, Rap, Hip-Hop usw. dem Bedürfnis nach Ausdruck elementarer Aggressionsimpulse, jedoch immer nur beschränkt auf die jeweiligen “Performer:innen”, das Publikum bleibt dabei als Zaungast, als Zuschauer passiv. Zudem sind solche Aktivitäten auf einen zeitlich und örtlich sehr eingeschränkten Bereich beschränkt. Als Befreiungsakt von unterdrückerischen und gewaltorientierten Normen und Verhaltensweisen früherer Zeiten ist aber auch die Entwicklung von zwanglosen Umgangsformen, Kleidungsgewohnheiten, Befreiungsbewegungen in den Künsten und in der Politik, der Entwicklung moderner demokratischer Gesellschaften mit den allgemein anerkannten Grund- und Freiheitsrechten zu verstehen.

Aggressionsimpulse müssen in allen Gesellschaftsbereichen zu einem allgemein anerkannten Ausdrucksmittel und als Impulsgeber für jegliche Art von Kommunikation und Begegnung zwischen Menschen verstanden und akzeptiert werden. Die strenge Unterscheidung von Aggression und Gewalt ist dabei besonders wichtig. Nicht die unendlich vielen verschiedenen Nuancen von Aggression führen zu Gewalt sondern die Unterdrückung von Aggression führt zu Gewalt. Gewalt ist eine Folge von Unterdrückung von Aggressionsimpulsen, nicht eine Folge der Toleranz von Aggression.

Was bleibt ist die Hoffnung, dass es doch noch gelingt, die außerordentliche Wichtigkeit aggressiver Impulse und deren Würdigung als Impulsgeber für alle Formen des menschlichen Zusammenlebens zu verstehen und damit auch im Großen einer unheilvollen Strömung entgegenzuwirken, die unweigerlich zu Gewalt und totalitären Verhältnissen führt. Die politischen Entwicklungen in der Gegenwart sind ein warnendes Beispiel dafür.

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