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Schule in der Krise


Eine Anfrage der ÖVP im Wiener Gemeinderat an Neos-Stadtrat Christoph Wiederkehr hat ergeben, dass die Zahl der gewaltbedingten Anzeigen an Wiener Schulen von 139 im Schuljahr 21/22 auf 528 im Schuljahr 22/23 und die Zahl der Suspendierungen von 494 auf 815 im selben Vergleichszeitraum gestiegen sind. Das ist alarmierend. Alerdings ist es höchst unseriös und geradezu absurd, die Zahlen in der Zeit von Lockdown und Homeschooling mit den Zahlen nach der Corona-Krise zu vergleichen. Das ist nichts anderes als primitiver Populismus. Trotzdem ist das Thema ein genaueres Hinschauen allemal wert.


Fairerweise muss gesagt werden, dass in den letzten Jahren eine Reihe von Maßnahmen im Schulbereich sowohl vom Bund als auch von der Stadt Wien ins Leben gerufen wurden. Es wurde in den letzten Jahren von der Stadt Wien das Schulkooperationsteam der MA11 den Schulen als Support zur Seite gestellt, der Bund hat mit "Gesund aus der Krise" ein niederschwelliges Angebot für psychologische und psychotherapeutische Hilfe ins Leben gerufen. Zugleich gibt es seit vielen Jahren Schulpsycholog:innen, Shulsozialarbeiter:innen, Beratungslehrer:innen und Psychagog:innen an fast allen Pflichtschulen in Österreich - und trotzdem rasten noch immer viel zu viele Schüler:innen gewalttätig aus, verweigern dauerhaft den Schulbesuch, erkranken an Depression und anderen psychischen Krankheiten und nicht wenige setzen ihrem Leben gewaltsam ein Ende.


Dass es sich hier nicht nur um das Problem einzelner Schüler:innen und das Versagen des familiären Umfelds handelt, liegt wohl auf der Hand. Trotz aller notwendigen und gutgemeinten Initiativen handelt es sich noch immer um ein Systemversagen auf ganzer Linie. Ein Desaster, vor dessen Ausmaßen vor allem das beliebteste Mittel der Politik zur Anwendung kommt: wegschauen. Bei allen von oben aufgesetzten Maßnahmen bleibt eines klar: das System muss so bleiben, es muss so funktionieren, wie es immer war und deshalb auch bleiben muss. Aber nicht nur das, es wird sogar noch eins draufgesetzt.


Zu allererst die Bürokratie. Es wird nicht - wie seit vielen Jahren gefordert - radikal aufgeräumt mit der überbordenden Bürokratie, es werden jedes Jahr von der Bildungsbürokratie neue administrative Schmankerl kredenzt. Es heißt, zusätzliches, spezielles Personal soll das übernehmen, administrieren müssen das die Lehrkräfte aber nach wie vor selbst, das kann ihnen niemand abnehmen. Beim derzeitigen Lehrkräftemangel so viel Energie an die Bürokratie zu verschwenden ist einfach nurmehr absurd.


Der nächste Punkt ist die Personaldiskussion. Angesichts des Personalmangels wird fieberhaft um Quereinsteiger:innen gerungen und Student:innen, die noch keinen Abschluss geschweige denn Praxis haben, ins Schulsystem geholt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Personen, die vorher studiert bzw. in der Privatwirtschaft oder im öffentlichen Dienst gearbeitet haben, nach einem pädagogischen Crashkurs in der Lage sind, die psychosozialen Herausforderungen im Unterrichtsalltag zu meistern. Zumal in der Schule weder Supervision noch ein sonstiges kollegiales Reflexionsformat implementiert ist. Es folgt vermutlich wie das sprichwörtliche Amen im Gebet, dass diese Lehrkräfte reihenweise binnen kurzer Zeit ins Burnout kippen werden.


Ein Kardinalfehler und das Versagen auf ganzer Linie betrifft das Ausbildungssystem selbst. In der Schule ist es noch nie und heute schon gar nicht mehr nur darum gegangen, wie man den Lehrstoff vermittelt. Wo lernen die angehenden Pädagog:innen, wie man den Stresslevel im Unterricht senkt, wie man Entspannung und Lernbereitschaft schafft bzw. mit emotionalen Krisen und Akutstress umgeht? Was braucht es, um Schüler:innen nicht maßlos mit Unterrichtsstoff und Übungen zu überfordern und darauf zu schauen, dass ihre beschränkte Freizeit, die sie für Regeneration und soziale Aktivitäten viel dringender brauchen, nicht für Nachhilfe und Hausübungen draufgeht? Da geht es um Empathie und Verstehen der vitalsten Bedürfnisse von heranreifenden Menschen, was leider in der Ausbildung kaum den nötigen Niederschlag findet und nur am Rande Bedeutung hat. Was zählt, ist einzig und allein das "Funktionieren" des Schulsystems in der aktuellen und tradierten Form, die jungen Menschen sind diesem System eigentlich egal. SIE haben sich anzupassen und nicht umgekehrt.


Aber wo ist die Lösung? Wie immer liegt die Lösung im System selbst. Dort, wo die Probleme unmittelbar auftreten. Immer dann, wenn Ideen und Maßnahmen von "außen", von "oben", "Top-Down" aufgepfropft werden, bildet sich ganz automatisch Widerstand und die Maßnahmen selbst erreichen nur eine beschränkte Wirksamkeit. Ideen, wie zum Beispiel die "offene Schule", das "offene Lernen" und verschiedene andere alternative pädagogische Konzepte sind gut und wichtig, entfalten ihre Wirksamkeit hauptsächlich dann, wenn Schüler:innen aus einem familiären Umfeld kommen, wo sie Gelegenheit hatten, eine sichere Bindung zu erfahren. Kinder, welche unsicher oder ängstlich-unsicher gebunden sind, tun sich oft schwer mit solchen an sich sehr fortschrittlichen Unterrichtskonzepten, weil sie bei solchen Kindern auf Angst und Unsicherheit treffen und den Stress mitunter verstärken. Bei Kindern, die aus einem familiären Umfeld kommen, wo Flucht und Krieg eine große Rolle gespielt haben und wo mit großer Wahrscheinlichkeit Traumatisierung im Hintergrund steht, ist es noch schwieriger, sich in solchen Unterrichtsformaten zurecht zu finden. Da entstehen schnell einmal "Trigger" und kaum eine Pädagog:in kann mit solchen Problemen und den Folgen angemessen zurechtkommen und hilfreich agieren.


Deshalb braucht es gerade im ganz "normalen" Schulbetrieb viel Raum und "Know how" zur Regulation des neuronalen Systems der Schüler:innen. Es muss Zeit zum Beruhigen geben und ganz viele Möglichkeiten, sich mit den Pädagog:innen und den anderen Mitschüler:innen zu co-regulieren. Das bedeutet ganz einfach, viel Raum um miteinander zu reden und mit den anderen ausgiebig in Kontakt und Beziehung zu kommen. Viele Möglichkeiten, sich im gemeinsamen Spiel und bei teamorientierten sportlichen Aktivitäten (kein Leistungssport!) innerhalb des Unterrichts und dazwischen lernen, das neuronale System zu beruhigen. Um die drei "sch" geht es: schwatzen, schwitzen, schmusen. Für das Lernen an sich ist es unabdingbar, dass sich das neuronale System in einem möglichst entspannten aber doch angeregten Zustand befindet. Erst dann kann die kognitive Kapazität des Großhirns abgerufen werden. Wenn Stress und Angst und Spannung herrscht, kann sich auch kein echter Lernerfolg einstellen. Und was dann in einem Zustand der Anspannung eingetrichtert wird, ist schnell wieder vergessen.


Wenn es dann bei manchen Schüler:innen infolge eines Ausnahmezustandes, der sich immer als Folge einer als Bedrohung erlebten Situation einstellt, wo dann im "Kampfmodus" Gewalt im Spiel sein kann, nicht mit einem Bestrafungsreflex reagieren, was dann alles noch viel schlimmer macht. Gerade Menschen, die aus dem familären Umfeld Gewalterfahrungen und/oder traumatisierende Umstände erlebt haben, sind meist in einem hochgradig angespannten Alarmmodus. Da ist dann schon ein böses Wort gegen das Selbstbild der Person oder eine abwertende Bemerkung gegen ein Familienmitglied oder eine Person, zu der eine enge Bindung besteht, der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt. Es ist ein Irrglaube, anzunehmen, dass jemand, der die Schwelle zur Gewalt überschritten hat, durch Bestrafung "lernt", dass er anders handeln muss. Im Fall akutem Erlebens einer starken Bedrohung gibt es nur Kampf, Flucht oder Erstarrung. So tickt das autonome Nervensystem seit Millionen von Jahren und evlutionär sind wir damit bisher gut gefahren. Es muss an der Reduktion der Stressfaktoren und der Möglichkeit der Regulation gearbeitet werden. Und das am allerbesten in Beziehung mit aderen im Rahmen einer Gemeinschaft, die einen hält. Wegsperren, ausschließen und andere antisoziale Maßnahmen sind Gift für derart belastete junge Menschen. Dazu braucht es aber auf der anderen Seite geschultes Personal, das mit solchen Extremsituationen konstruktiv und einfühlsam umgehen kann. Dazu braucht es psychotherapeutische Kompetenz vor Ort.


Ein weiterer großer Fehler des Systems ist das Individualisieren der Probleme. Es ist immer der Einzelne schuld, wenn der Lernerfolg ausbleibt oder das Verhalten auffälig ist. In Wahrheit ist es immer auch die Wechselwirkung mit dem Umfeld in der Schule, in der Familie und nicht zuletzt in der Gesellschaft, die zu den Handlungen Einzelner führt. Dr Einzelne verkörpert immer nur das Symptom, die Spitze von viel weiter verzweigten komplexen Problemen, die nicht so leicht zu sehen sind. Diese verdeckten Einflüsse gilt es zu identifizieren und das schulische Handeln darauf auszurichten. Auch dafür braucht es viel Offenheit, Mut zur Selbstkritik, Konfliktfähigkeit, Zeit, Einfühlungsvermögen und viel Kompetenz auf Seiten der Pädagog:innen bzw. deren Unterstützer:innen, um die notwendigen Prozesse zu begleiten.


Erst wenn all diese essenziell notwendigen Qualitäten, Kompetenzen, Prozesse und Bedürfnisse der unterschiedlichen Beteiligten Zeit und Raum bekommen, kann die Schule ein guter Ort für alle werden, der aber vor allem möglichst vielen Schüler:innen die Chance bietet, tatsächlich für das zu lernen, worum es wirklich geht. Um das wirkliche und unmittelbare Leben der anvertrauten Kinder und Jugendlichen und nicht um das Aufrechterhalten des Systems Schule.

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